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Ärztin untersucht Patientin

Geschlechterperspektive im Gesundheitswesen wirksamer berücksichtigen

Edition No. 143
Feb. 2025
Medizin, Gesundheit und Geschlecht

Leitartikel. Geschlecht spielt in allen Aspekten des Gesundheitswesens eine zentrale Rolle. Denn Krankheiten äussern sich je nach Geschlecht anders, sei es auf Ebene der Prävalenz und der Symptome oder der Gesundheitsbedürfnisse und Behandlungsreaktionen. Auch das Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen unterscheidet sich. Von einer geschlechtergerechten Medizin und Gesundheitsversorgung profitieren nicht nur Frauen, sondern alle Menschen – unabhängig von ihrem Geschlecht.

Trotz Fortschritten und wachsendem Interesse an der Gendermedizin gibt es bei der Berücksichtigung von Geschlecht in vielen Bereichen nach wie vor Lücken, etwa in der Forschung, der Behandlung und der Nachsorge. Auch im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fachpersonen gibt es Handlungsbedarf. Dies ist das Ergebnis des Berichts «Gesundheit der Frauen. Bessere Berücksichtigung ihrer Eigenheiten», den der Bundesrat im Mai 2024 in Erfüllung des Postulats Fehlmann Rielle (19.3910) veröffentlicht hat.

Die zwei Dimensionen von Geschlecht

Das Geschlecht umfasst biologische und soziale Aspekte. Die biologische Dimension (englisich: sex) umfasst anatomische, genetische, hormonelle und physiologische Merkmale. Meistens wird kategorial zwischen männlich und weiblich unterschieden – es gibt jedoch oftmals vielfältige weitere Ausformungen des biologischen Geschlechts. Die soziale Dimension (englisch: gender) bezieht sich auf kulturelle, soziale und psychologische Aspekte. Diese Dimension umfasst unter anderem die Geschlechtsidentität, Geschlecht als gesellschaftsstrukturierende Kategorie, ökonomische Geschlechterverhältnisse sowie die kulturelle und soziale Re-/Produktion von Geschlecht (z. B. Geschlechterrollen, geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Erwartungen.

Da es im Deutschen keine sprachliche Unterscheidung zwischen den beiden Dimensionen gibt, wird in dieser spectra-Ausgabe – wenn es um beide Dimensionen geht – der Begriff «Geschlecht» verwendet.

Gesamte Versorgungskette betroffen

Frauen sind in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung benachteiligt. Dies zeigt der Forschungsbericht des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung IZFG der Universität Bern. Der Forschungsbericht ist die Grundlage für den obengenannten Postulatsbericht Fehlmann Rielle.

Die Benachteiligung ist von der Prävention über die Diagnostik und Behandlung bis zur Rehabilitation und Langzeitversorgung spürbar. Zum Beispiel sind viele Präventionsmassnahmen auf männliche Gesundheitsrisiken ausgelegt und vernachlässigen für Frauen typische Risikofaktoren wie etwa zyklusbedingte Symptome. Krankheiten wie Diabetes oder Demenz werden bei Frauen seltener diagnostiziert und Therapien sind häufig weniger wirksam oder mit mehr Nebenwirkungen verbunden als bei Männern. Und Krankheiten, die nur oder überdurchschnittlich häufig bei Frauen vorkommen, sind oft ungenügend erforscht und werden daher seltener entdeckt. Dies zeigt unter anderem das Beispiel Endometriose: Bei weniger als der Hälfte der betroffenen Frauen kommt es zu einer Diagnose, und wenn doch, dauert es im Schnitt sechs bis neun Jahre bis zur Diagnosestellung (siehe Forum «Endometriose – die stigmatisierende «Frauen»-Krankheit). 

Auch soziales Geschlecht spielt eine Rolle

Neben dem biologischen spielt auch das soziale Geschlecht («Gender») eine wichtige Rolle, denn traditionelle Geschlechterrollen haben nach wie vor einen Einfluss auf die Gesundheit. So sind Frauen stärker in Care-Aufgaben involviert (z. B. Kinderbetreuung oder Pflege von älteren Familienangehörigen), was zu einer Mehrfachbelastung und grösserem Stressrisiko führt. Gleichzeitig leben Frauen laut IZFG-Forschungsbericht bewusster und nehmen öfter Gesundheitsdienste in Anspruch. Männer hingegen werden weniger ermutigt, über Gefühle zu reden, was sich auf ihre psychische Gesundheit auswirken kann (vgl. Artikel «Psychische Gesundheit: Geschlechterspezifische Tabus erkennen und überwinden»). 

Seit einigen Jahren findet im Bereich Gendermedizin ein Umdenken statt – in der Industrie, bei Behörden, in der akademischen Forschung. Etwa mit der Lancierung des Nationalen Forschungsprogramms NFP83 «Gendermedizin und -gesundheit», das im Sommer 2023 gestartet ist. Es soll in der Schweiz eine evidenzbasierte Wissensgrundlage für die Berücksichtigung von Geschlecht in Gesundheitsforschung, Medizin und Public Health schaffen.

Verschiedene Massnahmen

Das BAG setzt sich dafür ein, dass alle Menschen in der Schweiz eine möglichst gute Gesundheit und Zugang zur Gesundheitsversorgung haben – unabhängig vom Geschlecht. Gemeinsam mit anderen Bundesstellen ist das Amt für die Umsetzung verschiedener Massnahmen aus dem Bericht des Bundesrats in Beantwortung des Postulats Fehlmann Rielle verantwortlich. So soll in Bezug auf die Prävention geprüft werden, wie Geschlechteraspekte besser in der Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD-Strategie) und in der Strategie Sucht berücksichtigt werden können. Das BAG hat ausserdem den Auftrag, spezifische Bedürfnisse von Frauen mit Demenz im Rahmen der Nationalen Plattform Demenz besser zu integrieren. Und es ist für entsprechende Massnahmen in der Aus-, Weiter- und Fortbildung von Gesundheitsberufen zuständig.

Für eine bessere Berücksichtigung von Geschlecht im Gesundheitswesen braucht es nicht zuletzt das Engagement aller Akteure im Gesundheitsbereich, von der Medikamentenentwicklung und -zulassung über die Bildungsinstitutionen bis hin zu Fachgesellschaften, Apotheken, Spitälern und Arztpraxen. Es bleibt viel zu tun, aber es wurden verschiedene Steine ins Rollen gebracht, um die Medizin und Gesundheitsversorgung geschlechtsgerechter zu gestalten.

Quellen

Gesundheitliche Benachteiligung von Frauen (BAG) 

Contact

Morgane Pochon, Sektion Gesundheitliche Chancengleichheit,

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